Sepp ist 88, es geht ihm gut. Er ist E-biker aus Leidenschaft, ich hole ihn mit meinem Normalo-Rad an einer kleinen Steigung ein, als er sich kurz verschaltet. Er war schon frühmorgens 20 Kilometer weit gefahren, nun muss er dringend nach Hause, er bringt den Handwerkern Leberkäsesemmeln vom lokalen Fleischhauer, sehr löblich. „Früher fuhr ich neun Kilometer in der Stunde, jetzt fahre ich 16“, sagt er später, als er zum Kaffee vorbei kommt.
Neulich war Sepp in Jüttland, Dänemark, aber dort ging so ein Wind, dass er nicht Radfahren konnte. Als er zurückflog, versäumte er in Frankfurt seinen Anschlussflug nach Linz, der Flieger stand noch am Gate, aber das Gate war bereits geschlossen. Er wollte sich beschweren, aber die Beschwerdestelle war geschätzte drei Kilometer weit weg, er sagte: „Ich bin 88!“ Man brachte ein Wägelchen und fuhr ihn dort hin, es waren noch 300 andere Leute dort. Eine freundliche Dame wollte ihn in einem früheren Anschlussflieger unterbringen, aber das Gate war wieder drei Kilometer woanders, also sagte er wieder: „Ich bin 88!“ Sie brachten wieder ein Wägelchen und fuhren ihn wieder dort hin (einfacher wäre es gewesen, ihm ein E-Bike zu geben). Als er am Flughafen in Linz ankam, wartete einer vom Roten Kreuz auf ihn und fragte: „Wo dürfen wir Sie hinbringen?“
Seine letzte Reise führte ihn, der acht Jahre Donaudampfschifffahrtskapitän war und 26 Jahre Leiter des VÖEST Werkshafens in Linz, die Donau flussabwärts ans Schwarze Meer, das nennt man Talfahrt, zurück heißt es Bergfahrt, kein Witz. Die Reise endet an Meile 35 in Tulcea, denn „die Donau ist der einzige Fluß der Welt, der von der Mündung zur Quelle kilometriert wurde“. Bei Sulina ist der Kilometer Null. Während eines Landganges in Donji Milanovac traf er einen, der sagte: „Dich kenne ich!“ Er hatte vor dreißig Jahren, als es Jugoslawien noch gab, den VÖEST-Hafen besichtigt, weil sie damals in Smederevo einen ähnlichen Hafen bauen wollten.
Sepp war einer der besten Freunde meines Vaters, bis dieser vor fünf Jahren starb. „Er fehlt mir“, sagt er, sie konnten gut miteinander, vor allem wandern. „Er wusste viel.“ Zwei Jahre zuvor starb seine Frau, „sie lag zwei Wochen im Krankenhaus im Tiefschlaf, mein Sohn wusste, dass es ihr nicht gut geht, aber ich habe halt immer gehofft…. Naja, war so.“
Was denkt man, wenn man alleine zurück bleibt, was denkt man über den Tod und über das Leben? Über den Tod: „Ich habe keine Pläne mehr, es geht so dahin, man muss froh sein um jeden Tag, es ist so.“ Und über das Leben: „Man denkt nach, ob man eigentlich immer alles so richtig gemacht hat, oder ob man nicht manchmal ein bisschen netter hätte sein können…“