Anna

Anna ist 23, es geht ihr gut, als ich sie vor der Albertina beim Hridlicka-Denkmal anläßlich der Feierlichkeiten zum Ersten Mai treffe. Sie nimmt an der Veranstaltung der KPÖ teil, „obwohl ich kein Mitglied bin. Aber es geht jetzt darum, die Lebenskosten zu deckeln, die Lebensmittelpreise, die Energiepreise, und natürlich demonstriere ich für den Frieden.“ Sie lebt alleine im 17. Bezirk in einer Eigentumswohnung und studiert an der Uni Wien Jus, sie will eine Anwältinnenkarriere einschlagen.

Anna wurde als Mann geboren und hat mit 20 die Geschlechtsumwandlung begonnen, „ich bin damit soweit zufrieden.“ Gelegentlich gibt es Anfeindungen.

Ihre schöne Mütze hat sie nach dem Vorbild einer „linkssozialistischen Fraktion mit Bezug auf Gewerkschaften im Spanischen Bürgerkrieg“ selbst genäht, diese Fraktion war in Katalonie beheimatet, und sie hatten eben einen schwarzroten Hut, „den heute niemand mehr herstellt, also machte ich ihn mir selbst.“

Über das Internet recherchierte sie viel zum Spanischen Bürgerkrieg und zur Arbeiterbewegung. Sie hat selbst mal eine Lehre gemacht und eineinhalb Jahre in der Industrie gearbeitet, sie weiß also, wie es den Arbeitern geht. Auch wenn sie heute selbständig nebenher im Internet Geld verdient.

Leo

Leo ist 32, und „heute geht es mir gut.“ Es ist nämlich der Erste Mai, und der ist gewissermaßen sein zweiter Geburtstag, seit er das Datum vor vielen Jahren auf Facebook als sein Geburtsdatum nannte, seither gratuliert man ihm, der eigentlich im Oktober Geburtstag hat, nur  noch am Tag der Arbeit. An diesem treffe ich ihn, als wir vom Rotpunkt Lokal im 5. Bezirk Richtung Innere Stadt marschieren, zwanzig Leute inkl. zweier Babys. Da ist noch Luft nach oben!

Der Maler und Bildhauer hat auf der Bildenen bei Gunter Damisch studiert und 2019 den Abschluss gemacht. Seither „gfrettet“ er sich durch „wie alle Künstler. Ich hab eine Galerie, Ausstellungen, Arbeit. Aber es ist halt immer ein Hin und Her zwischen Förderungen, Verkauf und sonstigen Projekten.“ Und dazwischen Monaten, während derer er nur Nudeln ißt. „Aber solange man keine Kinder hat, geht’s ja.“

Die Fahne, die er trägt, ist schwarz und hat rosarote Streifen. Sie zeigt das Logo der AKK, der Aktion Kommunistischer Künstler, einer Arbeitsgruppe der Partei. Interessierte treffen sich einmal im Monat, um aktuelle Themen zu besprechen (Lueger-Denkmal; wie man mit NFDs umgeht; was AI für KünstlerInnen bedeuten wird). In der Gruppe haben sie ein bisserl das Gefühl, dass die KPÖ „dahingehen noch wenig Kompenz hat und im Parteiprogramm echte Lücken aufweist.“

Leo hat Freude daran, seine Genossen auch Genossen zu nennen. „Das macht man halt.“ Und er glaubt, „dass gerade ein Aufschwung einsetzt, dass ganz viele Junge aus einem sozialdemokratischen Umfeld, so wie ich, jetzt den Hut drauf hauen.“ Dass man in Salzburg gesehen hat ist, dass eine Stimme an die KPÖ keine verorene Stimme sein muss. Und dieser Turn, sagt er, wäre wichtig, damit jetzt endlich was weiter geht. Auch ein Generationswechsel in der Partei wäre bitter nötig. Theman müssten modern diskutiert werden, ohne, dass man ständig dem Großen Bruder nachtrauert.

Unlängst hat er irgendwo gelesen, dass keine Partei mehr eine Wahl gewinnen kann, deren Mitglieder Kapperl tragen. Er aber ist überzeugter Kapperlträger und – was das angeht – Traditionalist. Er hat viele handgemachte von einem Hutmacher aus Berlin und trägt sie, so wie Warhol früher seine Perücken getragen hat. „Sonst geb‘ ich als Figur ja nicht so viel her“, lacht er.

Franzi

Franzi ist 63,es geht ihm gut. Ich treffe ihn vor der Bootsanlegestelle Korneuburg, er wird heute noch ein bisschen die Donau hinauf fahren. Er lebt eigentlich im Bezirk St. Veit „am Berg oben, ich bin ein Bergbauernbua, i bin noch nie gesiedelt in meinem Leben.“ Lebt nach wie vor dort, wo er aufgewachsen ist, „die Eltern sind längst verstorben, wir waren zehn Kinder, ich bin der Jüngste. Ich hab das mit dem Bruder gemacht, der ist auch verstorben, mittlerweile führt den Betrieb der Sohn.“

1981 hat er seine Roswitha kennengelernt, „ein 17jähriges Madel, sie ist auf einmal gestanden bei der Kirche, wie der 4-Berge-Marsch war. Eigentlich hat mich meine damalige Freundin hinaufgeführt, aber dann hab ich um die Hand von der Roswitha angehalten.“ Mit ihr zusammen baute er das uralte Haus um, „das kann man sich nicht mehr vorstellen, das waren zwei Räume, eine Stube, da sind alle drinnen geschlafen, und eine Kuchl, da sind alle drinnen gegessen.“ Das WC war ein Pumplsklos, „und wer sich im Winter bei minus 20 Grad da hingesetzt hat, da bist du lei aussi und zack hast abgedruckt, da war nix mit Zeitungslesen. Dann haben wir gebaut und gebaut, ein Projekt zum anderen. Als Hobby für die Familie haben wir uns ein kleines Booterl nach Krotatien gestellt, immer ein paar Tage im Sommer, als Bergbauer kommst ja nicht weg.“

„Wir haben zehn Stuck Vieher gehabt, Schweinkerln, Hennal, Rindvicher. Im 2010er Jahr hab ich angefangen Forellen zu züchten, 1983 hab ich ins neues Haus einen Backofen hineingemauert und angefangen zum Backen, mich hat als Jüngster immer fasziniert mit der Mami Brot zum backen. Ein Holzofenbrot, ein Wahnsinn! Das tust einfeuern, und erst wenn der Teig richtig gegangen war und die richtige Hitz drinnen war, dann schießt du es ein und mit der Speicherwärme backst du es. Das war göttlich.“

„Kennst das, wenn der Partner sagt: Was kochen wir heute? Die Roswitha hat gesagt: Geh du Fisch holen, ich hol den Salat und mach die Erdapferl. Wir haben mal ein Jahr gehabt, da haben wir 500 Fisch verkocht am Hof…“

Dann, 2018, ist seine Roswitha, seine große Liebe, gestorben. „Wir waren 37 Jahre zusammen, das musst du dir einmal vorstellen. Mein bester Freund, ein Jäger hat mir gesagt, wie ich unter dem Teppich gelegen bin, wie ich nimmer weiter gewußt habe: Entweder du derschießt dich jetzt, oder du packst es an und lebst weiter. Und recht hat er, es ist einfach so im Leben. Du musst erst einmal das Glück haben, dass du diese Liebe gehabt hast. Natürlich hätte es ewig sein sollen, aber was ist schon ewig? Mit der Roswitha hab ich immer gesagt: Wenn es Winter ist, müssen wir mal in die Wärme, weil im Sommer haben wir die Wärme eh immer gehabt. Ein Jahr nach ihrem Tod bin ich mit dem Rucksack nach Fuerteventura, dort war ich sieben Wochen und hab sie noch ein bisserle mit mir getragen….“

Nun hat er hier in Korneuburg eine neue  Liebe. „Wir sind wandern gegangenhaben und haben uns gleich verstanden.“ Er pendelt zwischen Kärnten und hier, „aber es ist halt nimma das Nest, das man sich baut, wenn man jung ist. Das ist jetzt ein ganz anderes Leben.“

Alles Gute, Franzi! Es war mir eine Freude dich zu treffen.

Milli X

Milli ist 81, es geht ihr beschissen. Doch zunächst die gute Nachricht: Mit der rumänischen Pflegerin Aneta (links) aus Temesvar war es zwei Wochen lange richtig super, nachdem es zuvor mit der rumänischen Pflegerin L. ebenfalls aus Temesvar ein bisserl ein Schaas war: „Du musst Suppe essen! Musst du Suppe essen!“ So ging das den ganzen Tag, wer will das schon hören? Natürlich: Diese Pflegerinnen sind Heldinnen, werden von Österreichs ÖVP noch gequält mit sechs Stunden an der Grenzen, und so weiter. Aber Milli wollte ihre Suppe nicht, ihre Suppe aß sie nicht. Dann kam Gott sei Dank Aneta, die noch dazu ein bisserl aussah wie Brian May von den Queen. Zusatzpunkt. „Die war lieb. Meine Güte, war die lieb. Aber die will auch nach Hause zu ihrem Mann!“

Bevor Aneta heute Nacht um 3 Uhr früh abgeholt wurde vom Rumänen-Taxi, fiel Milli im Wohnzimmer noch hin, bravo. „Hast du Scheiße am Fuß, hast du Scheiße am Fuß“, sagte einst ein Fußballtrainer. Also: „Ja, danke, mir geht´s eh beschissen.“ Sie wurde „einvakuumiert“ und ins Krankenhaus zum Rötgen gebracht, Danke ans Rote Kreuz. Gott sei Dank hat sie keine Brüche, die hatte sie eh schon alle, aber immerhin eine Lungenprellung – Schmerzen Ende nie und wieder mal Bettruhe. Außerdem steht am Krankenhauszettel: „Schmerzen rechte Hüfte“. Und es ist definitiv die linke! Also wollen wir den Radiologen nicht vor dem Abend loben.

Was wünscht du dir heuer? „Meine Güte…. Dass das einmal nimmer weh tut!“ Jedenfalls schenken wir heuer zu Weihnachten Mexalen und solche Sachen. Bisschen Suppe (von mir!), bissi Fencheltee. Weihnachtsgans gabs früher schon keine, und der Karpfen hieß sowieso auch immer Forelle. Kekserl? Gibt´s nächstes Jahr!

Euch auch die besten Wünsche.

Milli IX

Milli ist 81, es geht ihr gut. Wir sitzen vorm Haus, sie wartet auf die Abendbetreuerin der Volkshilfe. Wer heute kommt? „Das weiß ich nicht, schauen alle gleich aus. So ein kleines Pulverl krieg ich immer, ich weiß gar nicht, für was? Fürs Schlafen? Geh, ich brauch doch kein Pulverl zum Schlafen, ich kann eh so gut schlafen. Weiß du, wann die kommen? In zwei Stunden erst? Ich glaub gar nicht, dass die heute noch kommt. Wenn es so schön ist, vielleicht wollen sie einmal was anderes machen? Vielleicht sind sie baden?“

Sie hätte gar nichts dagegen, wenn sie nicht kommen würden, dann könnte sie schon schlafen gehen. Sie hat mehr oder weniger das Gefühl für die Zeit verloren, Vormittag, Nachmittag? Ist ihr relativ wurscht. „Was ist, wenn es finster ist?“, frage ich sie. „Nacht“, sagt sie und lacht. „Und was ist, wenn die Sonne scheint?“ – „Sommer“, sagt sie und lacht noch mehr. „Du Rotzbub, mich kannst du nicht hineinlegen, mich nicht.“

Dann reden wir über die Vielzahl an Mehlspeisen, die sie ihr Leben lang gemacht hat, Bauernkrapfen, Baunzen, Mäuse, alles Germteiggerichte, für die sie den Teig mit der Hand geschlagen hat. „Dann hab ich irgendwann keine Luft mehr gekriegt, da hat es mir so weh getan, da beim Herz. Man merkt es eh, wenn es einem zu viel wird, wenn es vorbei ist mit der Schinderei. Ich tu  nix mehr, der Doktor Brandstätter hat gesagt zu mir: Du hast ganz recht, wenn du nix mehr tust! Sollen alle denken, dass ich faul bin, mir ist das alles wurscht, was die denken, ich nehm das alles nicht mehr ernst. Da oben, da haben sie gefilmt, wie die zwei Zwutschgerl im Kinderwagen meine Krapfen gegessen haben, so geschnappt haben sie die, und dann haben sie sie nicht mehr ausgelassen und verputzt, und er hat das gefilmt, der Papa von denen, das können sie sich immer anschauen, wie die meine Krapfen essen, da haben sie eine Erinnerung, aber ich mach keine frischen mehr, na, ich hab genug gearbeitet. Ich glaub, ich geh schlafen.“

„Aber es ist erst 15 Uhr.“:

 „Na, und?“, lacht sie. „Ich hab genug gearbeitet, ich darf müde sein. Wir haben als Kinder schon so viel gearbeitet, dann haben wir uns ins warme Bett gelegt, das war schön. Jetzt freu ich mich auch schon wieder aufs Bett, so ein gutes  Bett hab ich. Ich kann schlafen gehen, wann ich will. Für was soll ich aufbleiben?“ Sie lacht. „Na? Für was? Bleib halt du auf, solange du willst, aber ich geh dann schlafen.“

Richard

Richard ist 89, es geht ihm gut, obwohl er ein bisserl müde ist, als ich ihn beim Griechen im Obergeschoß seiner Lugner-City treffe. „In den letzten Tagen war ich in Dresden beruflich, in Leipizg wege der Blutauffrischung, die ist teuer, natürlich, aber ich glaub, dass das hilft, und Prag hab ich noch dran gehängt, aber schlafen hab ich nirgendwo können. Und heute hab ich schon zwei Bier getrunken, jetzt das dritte, aber Bier hat ja eh keinen Alkohol.“

Am Abend muss er dann heute noch nach Stockerau zu Floh im Ohr, „eine kleine Produktion, eine Billigproduktion. Ich nehme die Bambi mit, die unten bei der Information sitzt, das wird romantisch heute vermutlich. Der dort in Stockerau hat lange auch Parndorf gemacht, wie heißt er denn?“ Ich weiß es auch nicht. Ob er immer eingeladen ist? „Manchmal zahl ich auch. In Reichenau bin ich noch nie gewesen, ich kann ja nicht überall sein.“ Und die  Sommerhitze? „Mit der Hitze geht’s, ist ja im Freien.“

Die Geschäfte? „In der Lugner haben wir die Umsätzen heuer von 2019 schon überholt,und das ist eine Leistung. Wennst schaust, SCS oder Plus-City in Graz, da fahren die meisten nur noch am Wochenende hin oder am Freitagnachmittag, unter der Woche ist bei denen nix los, weil das Benzin so teuer ist. Wir haben da vier Straßenbahnen, die Garage geht ein bisserl schlechter, sagen wir 400 Plätze sind frei, das ist die Hälfte. Das Kino wird sowieso immer schlechter, weil alle zu viel Netlix und waaaß i wie die alle heißen schauen, irgendwann wird das Kino zusperren müssen, dann machen wir ein Einkaufszentrum auch dort, das wird ein teurer Spaß, aber es bleibt nix anderes übrig. Heute haben wir minus 15 % in zwanzig Geschäften, das machen wir seit dreißig Jahren oder noch länger.“

Was tut sich in der Gesellschaft? „Die Jeannine Schiller war mit der Mausi jetzt wieder zwei Mal unterwegs, sonst ist sie ja zuhause eingegraben, er nimmt sie ja nicht mehr so gern mit, die Mausi ist halt ihre engste Freundin. Ich selbst bin mit ständig wechselnden Frauen unterwegs, weil ich keine fixe habe, aber ich habe einen großen Polster an Damen, die ich mitnehmen kann, jeden Tag wen andern. In der Nacht, wenn ich wo bleib, in Salzburg zum Beispiel, dann nehm ich nur zwei ältere Damen mit, da kann ich mich mit einer 27jährigen nicht sehen lassen, das ist nicht richtig. Am Wochende schau ich mir dort die Zauberflöte an, am 13. bin ich bei der Aida, das ist die große Premiere, beim Beachvolleyball in Wien bin i am Sunndoch, auf Urlaub war ich schon drei Jahre nimmer, weil ich keine fixe Partnerin habe, und allanich ist das nix. Andere sagen es ist schön, wenn man dauernd eine andere hat, ich tät sagen, eine wär mir lieber. Zwei Jahre war ich eh in fixen Händen, voriges Jahr mit dem Bienchen, und davor mit dem zebra, aber das Bienchen ist ausgeflogen und das Zebra ist davongerannt. Es wäre schön, wenn wer daheim wäre ausser der Bedienerin.“

Gilbert

Gilbert bzw. „Gil“ wie Chill ist 43, es geht ihm gut. „Gilbert ist eigentlich althochdeutsch“, genauer gesagt leitet er sich vom alten germanischen Namen Giselbert ab, „aber die Leute fragen immer, ob der Name französisch ist, also Schilbert ausgesprochen wird.“ Gil also ist ein „hardcore Workouter“ und schaut, dass er so früh wie möglich aufsteht, „meistens so zwischen fünf und sieben, mit Kindern ist es halt schwierig, aber ich probier´s“, lacht er.  Dann fährt er aus dem 5. Bezirk, wo er wohnt, hierher in den 15., wo er sich in der Lugner gratis einparkt und dann heraufkommt in den Vogelweidpark kommt. „Da ist die Luft frisch, da ist keiner da, das ist die beste Zeit, da genieße ich die Stunde, die ich in meine Gesundheit und Wohlbefinden investiere. Die Vibes müssen passen, die Musik muss stimmen.“

Mit Anfang 30, in einer schwierigen Lebensphase, fing er im Gym mit Gewichten an, „tauchte in die Muskelmassenrealität ein“ und merkte bald, dass ihm das nicht taugt. Er wechselte zu „Calisthenics Bodyweight“, wo man ausschließlich mit dem eigenen Körpergewicht trainiert. „Das macht irrsinnig Spaß, da geht es nicht so ums Aussehen, da ist der Weg das Ziel. Ich brauch das einfach, dann weiß ich, dass der Tag mir gehört. Wenn ich eine Woche nicht trainiere, fehlt mir was. Das ist eine Challenge.

Der Handstand insbesondere „ist eine Ganzkörperübung, er ist reinigend, eine Mischung aus Balance und Kraft, man muss sich sehr konzentrieren und alles um sich herum abschalten. Balance im Leben ist ein wichtiges Thema. Die innere und äußere Belance gehören zusammen. Dazu die Sonne am Morgen, das ist perfekt.“ Wir dürfen uns Gil also getrost als glücklichen Menschen vorstellen.

Michelle

Michelle (Mitte) mit ihren Freundinnen Selina (li.) und Victoria (re.)

Michelle ist 20, es geht ihr gut. Die angehende Kommunikationswissenschaftsstudentin steht/sitzt/liegt am Vormittag des 16. Juli mit ihren Freundinnen Selina und Victoria vor der Wiener Stadthalle und wartet samt Campingausrüstung auf den Beginn des abendlichen Konzerts von Harry Styles, und das seit zwei Tagen. „Harry Styles ist mit 16 berühmt geworden“, erklärt sie mir Relikt, „mit der Boyband One Direction, falls Ihnen die etwas sagt? Die haben sich vor ein paar Jahren getrennt und sind jetzt alle solo unterwegs.“

Sie ist die Erste in der Warteschlange im „Golden Circle“-Bereich (€ 100,–), während auf der anderen Seite der Stadthalle die für den „Golden Circle Early Entry“-Bereich (€ 230,– inkl. Merch) anstehen. „Man darf zwei Stunden am Stück weg, dann muss man sich wieder bei der Security melden, sonst ist die Wartenummer weg.“ Was sie wirklich stört: „Es gibt sehr viele unfaire Fans, die ihre Tickets auf Willhaben um 1000 Euro weiterverkaufen!“

Michelle hört Styles’ Musik, seit sie acht ist: „Damals hat man sich die Youtube-Videos noch aus Spaß angeschaut, das war Entertainment!“, redet sie wie unsereins über erste Schallplatten. „Ich habe damals extrem viele Freunde gefunden, und auch jetzt komme ich mit vielen netten Menschen zusammen.

Darum macht das Campen auch Spaß, obwohl es später hier sehr eng werden wird. Dann muss man aufpassen, dass keine Massenhysterie ausbricht. Es gab schon Konzerte von ihm, wo Leute sich fünf Tage lang angestellt haben, dann beginnt oft der Stress. Wenn eine anfängt zu stressen, dann ist das ein Dominoeffekt!“ Dann kann es passieren, dass die Mädchen reihenweise in Ohnmacht fallen wie früher ihre Omas bei den Beatles.

Stefan

Stefan ist 49, es geht ihm gut, obwohl er lieber „Hans Gans“ heißen würde, „oder nein! Lieber Hans Weller!“ Seit 22 Jahren ist er als Clown Pompo unterwegs, „vorher war ich Vagabund auf der ganzen Welt, ich bin echt rumgelaufen, Pferd, Esel, Autostopp, Bus, Flugzeug, auch ein Jahr am Schiff“. Wo war’s am schönsten? „Kann man nicht sagen! Du kannst vielleicht sagen, wo es am nicht schönsten war! Jamaika ist anstrengend von den Leuten her, die wollen alle Kohle von dir, am Tag 200 Leute, aber landschaftlich ist es toll!“

Zum Clownsein führte ihn die Sinnlosigkeit des Daseins: „Ich wusste nicht, was ich sonst machen soll, ist ja alles Kacke sonst!“ Ein bisschen schnupperte er in Ausbildungen, aber die interessierten ihn nicht. „Ein Clown muss es spüren, muss sich spüren, dann muss er sich zeigen, darf dabei nie lachen. Ein Clown hat Probleme, jede Menge Probleme. Es fällt ihm der Hut runter, dann steigt er drauf, dann sieht er ihn nicht, dann stolpert er darüber.“

Gibt es manchmal auch Probleme mit den Kindern? „Na ja, auf dem Balkan kommen die Kinder und reißen mir alles aus dem Koffer. Das sind aber meine Utensilien, die ich vom Flohmarkt zusammengekratzt habe, die brauche ich!“ Beim Zirkus hat er es auch mal probiert, „aber das geht nicht, die zahlen nichts“. Am häufigsten spielt er jetzt wieder in Vorarlberg, „und das ist auch gut so“. Früher wollte er überall in Europa spielen, „aber das hat nicht geklappt“. Den Kindern rät er zu machen, was sie wollen. „Sie sollen von mir aus Banker werden, aber mit Clownnase! Denn was macht der Clown? Er scheitert. Und jeder Mensch scheitert, baut Scheiße. Darum lacht er ja über den Clown, weil er sein eigenes Scheitern verdrängt

Lucy

Lucy ist alterlos, es geht ihr gut. Als schwuler junger Mann begann sie im legendären, 1993 gegründeten Wiener Café Berg in der Berggasse im neunten Bezirk zu arbeiten, neben der ebenso legendären Wiener Themenbuchhandlung „Löwenherz – Lesenswertes für Schwule und Lesben“. Das Café Berg damals: „So etwas gab es bis dahin nicht. Es war das erste schwule Lokal, das keine Türklingel hatte, was bis dahin bei allen schwulen Lokalen der Fall war, außer vielleicht im Savoy am Naschmarkt, in dem auch queere Leute willkommen waren. Das Berg stand dann auch am Tag für alle Schwulen offen, und die Fenster des Cafés zur Straße hin waren groß, sodass jeder reinschauen konnte. Und drinnen hat man sich nicht etwa geschämt dafür, dass man schwul war, im Gegenteil hat man ein bisserl so etwas wie Pride entwickelt. Das Publikum war wild gemischt, von ganz jung bis älter, von Landbursch bis Stadtmädel.“ Später arbeitete sie auch im U4, „auf Clubbings habe ich immer mehr gearbeitet als gefeiert“.

„Lustigerweise war das alles für mich damals gar nichts so spektakulär, das wurde es erst rückblickend. Ich hab schon ziemlich am Anfang dort gearbeitet, und das Schwulsein gehörte eben zu meiner Sozialisation dazu. Es waren lauter außergewöhnliche Leute, auch die, die dort gearbeitet haben. Und die brachten mich auf die Idee, die Sitcom Villa Valium zu schreiben.“ Das war Ende der 90er-Jahre und ein Riesenerfolg, „aber ohne meine Jahre im Berg hätte ich mich nicht auf die Bühne getraut!“. Den Namen ihrer Kunstfigur Lucy McEvil, die es als Diseuse, DJ, Schauspielerin und Moderatorin noch immer gibt, leitete sie von einem Song der Band Blood, Sweat & Tears ab, die über Lucretia MacEvil sang.