Manfred

Manfred wird heuer 65, es geht ihm gut. Als junger Mann ist er „so um 1979
herum“ immer wieder mal nach Italien gefahren und hat dort Leute getroffen, die von besetzten Häusern wussten. „In den 1970ern gab es in Italien eine starke Linke, die Lotta Continua leistete Gewerkschaftsarbeit z. B. in den Fiat-Werken in Turin.“

Einmal wohnte er also mitten in der Altstadt Venedigs in einem besetzten Haus neben einem Studentenheim. „Die findigen Studiosi hatten die Wand zu einem benachbarten, alten Palazzo durchgebrochen, über den Eingang Studentenheim kam man in die weiten, aber desolaten Räumlichkeiten des Palastes, fast 100 Leute haben dort in Schlafsäcken genächtigt, das war sehr international: Linke, Autonome, Abenteurer, Autostopper.“

Manfred, der später Reportagen aus Athen z. B. für Zickzack im ORF machte, ist damals selbst oft „auf der Triester Straße gestanden neben den Hanffeldern auf der Gstett’n, die es damals gab“, und damals kam man dort relativ schnell weg. Einmal bis Sizilien, meist aber bis Venedig, Bologna und Florenz, wo es eben eine sehr große linke Bewegung gab.

„Die radikalen Zustände in Italien, das konnte man sich im Norden gar nicht vorstellen. Das war so eine selbstverständliche Haltung: Wir sind das Volk!“ Bei Tankstellen und Supermärkten holte man sich einfach Essen und Trinken, was vor dem Gesetz als Mundraub („Beschaffung von Nahrungs- und Genussmitteln von geringem Wert zum baldigen Gebrauch“) galt und nicht bestraft wurde. „Freilich fiel nicht darunter“, lacht er, „dass sich viele auch Wein und Zigaretten und alles mögliche andere mitgenommen haben.“

Heidi

Heidi wird heuer 60, es geht ihr gut. Sie hat Theologie studiert, „das ist schon ein bisserl länger her“, und unterrichtete danach in einem Gymnasium in Wien-Penzing, als Zweitfach nahm sie Deutsch. „Die Demografie hat sich stark geändert, früher hatten wir volle Röm.-kath.-Religion-Unterrichtsklassen, jetzt haben wir sehr kleine.“ Neuerdings gebe es aber wieder einige mit „ohne Bekenntnis“, die trotzdem am Unterricht teilnähmen.

Mit ihrem Mann zusammen ist sie gerade aus Wien-Währing nach Floridsdorf übersiedelt, die Kinder bekamen ihre Wohnung, sie selbst fangen hier herüber der Donau noch einmal neu an. „Das ist hart“, lacht sie, „aber was tut man nicht alles für die Kinder? Wohnungssuche ist ein Horror, für die Jungen noch mehr als für uns, das merkt man erst, wenn man selbst sucht.“

Mit der Abfertigung des Mannes sowie dessen Rente, ihrem Einkommen und Ersparnissen konnten sie sich auf die Suche machen. In Floridsdorf, wo sie nie hinwollten, wurden sie fündig. „Wir sind aus dem 18. Bezirk sehr verwöhnt und suchen jetzt hier eine Infrastruktur, gutes Biobrot z. B. ist sehr wichtig“, auch hätte sie gerne eine Büchertauschbox. Sie fahren gerne mit dem Rad, da passt die nahe Donau sehr gut. Und letzte Woche entdeckten sie den Schlingermarkt: „Der ist nicht schlecht!“

„Die Schulkinder hängen nach zwei Jahren Pandemie in den Seilen, wir Lehrer haben wahnsinnige Ausfälle. Aber die Motivation nimmt nicht ab, die Kinder sind unterstützend, weil sie es in der Schule besser haben als zu Hause. Nur bräuchten wir Stützpersonal, Sozialarbeiter und Psychologinnen wie einen Bissen Brot, aber das wird nichts. Lieber erhöhen sie die Pendlerpauschale!“

Matthias

Matthias ist 42, dem Schauspieler geht es gut. „Es gibt seit zehn Jahren ungefähr ur viele Windhunde in Wien“, sagt er, als ich ihn nach seinem frage.

Er selbst hat seine Pina vor elf Jahren aus einem Tierheim in Zwettl geholt, „als ich noch in Riegersburg gewohnt habe. Da stand sie heraußen mit diesem Typen, der sie hergezeigt hat, und hat geschlottert vor Kälte. In meinen Augen hat sie dabei getanzt wie eine Ballerina, darum nannte ich sie Pina nach der Tänzerin Pina Pausch.“ Es ging ihr relativ gut in Zwettl, relativ zu Spanien, woher sie kam: „Die Hunde dort werden oft einfach am Baum aufgehängt, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.“

Seine rüstige „Pensionistin“ läuft natürlich immer noch gerne: „Im Auer-Welsbach-Park die kurzen Strecken, richtig laufen kann sie in Neuwaldegg draußen im Schwarzenbergpark. Ich glaub, so einen Achtziger hat sie früher zusammengekriegt. Ob jetzt noch? Ich weiß es nicht“, lacht er. Irgendwelche Besonderheiten? „Sie mag keine schwarzen Hunde!“ In seinem Bett darf sie natürlich nicht schlafen. „Um Gottes willen! Ich trag viel Schwarz, dann hätt ich überall ihre weißen Haare. Der Kofferraum schaut aus, das glaubst du nicht!“

Einmal spielte er mit Otto Schenk in Schnitzlers Liebelei. „Der hat Geschichten erzählen können, unglaublich! Da musste ich zum Beispiel der Mizi überbringen, dass ihr Liebhaber sich umgebracht hat. Die Mizi fragt, ob es wegen der anderen war. In der Probe hab ich immer relativ straight Nein gesagt. Der Otti aber hat gemeint: ‚Du, das musst du so spielen, pass auf: Bevor du antwortest, tust du so, als würdest du einen Schas rausdrücken. Und erst im Moment der darauffolgenden Entspannung sagst du Nein.“

Edith

Edith ist 76, es geht ihr gut. Sie kommt gerade zum Rabenhof-Theater, um Andreas Vitásek in Der Herr Karl zu sehen, weil sie bereits Helmut Qualtinger als Herrn Karl live gesehen hat: „I glaub’, des war im Theater an der Wien. Oder in einem Keller? Ah, genau! Das war im Kleinen Theater im Konzerthaus!“ Und es muss so ab 1961 gewesen sein, dem Jahr der ORF-Premiere des umstrittenen Mitteldings aus Kabarett und Theaterstück.

„Ich war viel im Theater, sehr viel, alleine oder mit der Großmutter, der Oskar Werner war mein Liebling! Ich wollte immer Schauspielerin werden. Das ist mir leider nicht gelungen, weil weißt eh, ich hab geheiratet und zwei Kinder gekriegt, so bin ich halt Friseurin geworden. Schauspielerin war kein Beruf. Du hast müssen werden Friseurin oder Verkäuferin.“

Aber: „Mein Großvater war böhmischer Herrenschneider, der hat so eine Schneidertafel gehabt, weißt eh, wo darauf zugeschnitten worden ist, und da hab ich darauf gesteppt und getanzt. Und meine Großmutter hat immer gesagt: Geh zum Rosenhügel, die nehmen dich!“, lacht sie. „Aber ich war zu feig. Wenn ich hingegangen wäre, hätten sie mich eh genommen.“ Kabarett und „so lustige Sachen hätte ich gerne spielen wollen, weil dass du lachen kannst, das ist das Wichtigste. Oder Stücke, die unter die Haut gegangen sind.“

„Der Peymann war dann zunächst nicht so meines. Aber dann hab ich gesehen, dass er eh recht gehabt hat mit allem, was er gespielt hat, dass der eh nur die Wahrheit gesagt hat über das, was der Österreicher ist.“ Insofern sei der „Herr Karl“ natürlich aktueller denn je, „wie der das alles lobt, und wie er nirgends dabei war, aber profitiert hat. Ein feiger Hund.“

Ebubekir

Ebubekir ist 24, er ist in der Wiener Leopoldstadt drüben geboren und aufgewachsen.
Von seinem Papa, der am Alsergrund ein Geschäft hat, lernte er die Handwerke der Schlüsselnachfertigung mittels Kopierfräsmaschine sowie der Schuhreparatur, für die man damals noch einen Gewerbeschein brauchte.

Sein Bruder hilft ihm, wenn er mal rauswill aus dem kleinen Laden in der Lugner City unterste Ebene, gleich neben dem Bankomaten, gegenüber vom Libro. „Meistens brechen die Leute in der Hektik die Schlüssel ab, Kinder verlieren sie“, oder Frauen fänden sie nicht mehr in ihren Handtaschen. Wenn die Leute verbogene Schlüssel zurückbiegen, werden diese weich, dann sollte man dringend einen nachmachen lassen.

Gebrochene Schlüssel können zwar auch rekonstruiert werden, sie kosten halt mehr. Wenn der letzte Schlüssel verlorenging, ist oft große Verzweiflung angesagt, ein Aufsperrdienst kostet schließlich nicht zehn bis 50 Euro, wie ein neuer Schlüssel bei ihm, sondern … eh schon wissen. Einfache Wohnungsschlüssel (z._B. von EVVA) oder Postkastlschlüssel (z._B. von Gege) kann er sofort machen, Sicherheitsschlüssel dauern ein bisserl, patentierte Schlüssel (z. B. Pöllmann Multilock) müssen bei der Herstellerfirma in Auftrag gegeben werden, das dauert bis zu zehn Tage.

Die älteren Balkan-Schlüssel der Firma Erwe (Altbauzimmertüren, WC-auf-dem-Gang-Türen) haben eine Nummer von 1 bis 60, da legt er den Schlüssel auf einen Vorlagenzettel und schaut, welcher passt. Schlüsselkappen wählten die Damen meist in Rot oder Lila, die Herren meist in den Farben Schwarz oder Blau. Den Standort hat er vom Vorgänger übernommen, Richard Lugner sei ein guter Vermieter, aber auch ein guter Auftraggeber.

Anna Maria

Anna Maria ist 34, es geht ihr gut. Ihre Haut zieren gezählte 49 Peckerl, das erste ließ sich die Buchhändlerin 2006 im oberösterreichischen Ohlsdorf stechen. Dort hat es neben dem Thomas Bernhard auch einen Tätowierer gegeben, „der hat ‚Il Papa’ geheißen, weil er Pabst mit Nachnamen hieß, und der war der einzige in der Gegend Vöcklabruck/Gmunden, der überhaupt was hat stechen können und auch von meinem Exfreund den eineiigen Zwillingsbruder von Kopf bis Fuß tätowiert hat – so was siehst du in OÖ auch heute nicht so oft.“ Der Metal-Fan trug damals noch „Vögele-Jeans und Hemden vom Bruder“ und gab Il Papa eine Vorlage – einen Schach-Spinger – , sagte „So!“ Und so hat er es gemacht. „Damals hieß es noch, in der Tinte wäre Autolack drin!“

Dann? „Hab ich vom ‚Papa’ noch zwei venezianische Masken am Rücken: Komödie und Tragödie mit zwei Banderolen, aber die Bedeutungen sind vertauscht, die Komödie weint, die Tragödie lacht. Dann bin ich nach Wien gezogen, und es ist richtig losgegangen.“ Mittlerweile trägt sie eine bunte Kollektion aus den Nadeln von 15 oder 16 Tätowierern, man spricht sich beim Fortgehen an: „He, dein Peckerl ist geil, wer hat das gemacht? Dann schaut man sich den/die mal an. Das war freilich vor Instagram, wo man heute das komplette Portfolio der Tätowierer sieht.“

Die letzten „Drei Schrauben“ sind von einem Oberösterreicher in Wien, der gerade beim Dunkelbuntstudio lernt. Allerdings sind die Schrauben Nägel, aber immerhin mit einer Nut oben. Kann passieren! Von Eigentätowierungen mit Kuli wie im Häf’n rät sie ab: „Naja klar kriegst da eine Blutvergiftung. Aber das kann dir auch einer sagen, der nicht nur drei blaue Murmeln im Schädel hat!“

Helmut

Helmut ist 39, es geht ihm gut. Ich treffe den Rapid-Fanbetreuer beim Stammtisch des SK Rapid im Wiener Innenstadtlokal Alt Wien in der Bäckerstraße, vor dem zwei große Dosen grünes Werbebier aufgeblasen sind. Drinnen sitzt u.a. Zoran „Zoki“ Barišić am Podium und beantwortet Fragen. „Wir wollen raus zu den Fans“, sagt Helmut.

„Rapid wird gut angenommen in ganz Österreich.“ Das grüne Leichtbier aber, das auch im Stadion ausgeschenkt wird, ist manchem Fan zu leicht. „Es soll der Genuss im Vordergrund stehen“, erklärt Helmut. Und Scheichgeführte Vereine wie PSG z.B. würden im Stadion nur noch alkoholfreie Plörre ausschenken.

Was ist ein Rapid Fan? „Jemand, der sehr begeisterungsfähig ist. Und jeder Rapid-Fan ist gleich. Du gibst deine soziale Herkunft an der Kassa ab. Familien, Wirtschaftstreibende, solche mit schmaler Brieftasche – alle willkommen.“ Auch er war Fan auf der Westtribüne und rutschte um 2000 über das ehrenanmtliche Einbringen in den Verein, „da ist grad der Savićević gekommen, ein Idol von mir, ein Weltstar.“ Heute sollen Eigenbauspieler Identifikation schaffen. „Rapid-Fans erleben ja nicht immer nur Höhen. Wir leiden, wir stehen auf, wir siegen, und dann feiern wir doppelt so stark wie alle anderen. Dann leiden wir wieder. So geht’s immer hin und her. Jetzt hoffen wir natürlich, dass wieder einmal ein Erfolg kommt …“

Bester Rapidler aller Zeiten? „Wahrscheinlich der Bimbo Binder, weil er halt in dieser ganz großen Zeit gespielt hat.“

Beste Rapid-Dress? „Man wünscht sich, dass sie gestreift ist, das ist Tradition. Aber wichtig ist, dass sie grün-weiß ist oder halt auswärts blau-rot, das ist entscheidend. Das soll und wird immer so bleiben.

Jana

Jana ist 47, es geht ihr gut. Sie wurde in der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan geboren und lebte ab 1980 mir ihrer Familie in Almaty in einer Chruschtschowka, eine umgangssprachliche Bezeichnung für meist in den 1960er Jahren errichteten Plattenbauten: „Da gab es ein Programm, dass jeder eine eigene Wohnung bekommen sollte. Sie haben ganz schlechte Häuser gebaut, vier Stockwerke, es rinnt alles von oben nach unten, die Nachbarn von unten klopfen: Wir haben Wasser von Euch! – Ja, wir haben es von oben! Dann klopfst du oben, aber die sperren nicht auf, weil sie genau wissen, worum es geht, usw. Die Wohnung hat, ich darf das gar nicht sagen, 27 m2, es gibt einen Balkon, der abgeknickt ist. Wir lebten dort zu viert, hatten Mäuse und andere Tiere. Meine Mutter wohnt noch immer dort, sie zahlte monatlich 27 Rubel, nach 20 Jahren gehörte sie ihr.“

Die Wohnung liegt im achten Mikroraion der Stadt, einem Schlafbezirk, und mit den Autobussen 35A und 56A fuhr Jana immer alleine zur Schule. Die zentrale Heizung konnte nicht auf- oder abgedreht werden. Im Winter war es daher saukalt, weil die Regierung nicht heizte aus Angst, die Gasvorräte würden zu früh aufgebraucht werden. Das waren sie dann aber nie, also musste im Mai alles verheizt werden, wodurch die Wohnung unerträglich heiß war.

Trotz Armut sparte ihre Mutter so viel Geld, dass sie Jana einen Privatlehrer für Klavier bezahlen konnte. Sie schaffte dann 15jährig die Aufnahme ans Tschaikowsky Konservatorium, einer der noch heute führenden Musikuniversitäten der Welt. „Mir wäre die Welt offen gestanden!“, lacht sie. „Aber dann kam ich nach Wien und wurde Fotografin.“