
Milli ist nach wie vor 79, es geht ihr so halbwegs. Draußen hat es vier Tage lang geregnet, die Freundinnen hören wieder auf, sie zu besuchen, wegen Corona. Wenn jemand anruft, dann geht es immer darum: „Mir geht es schlecht, mir tut alles weh, usw.“ Ein abermals zäher Winter zeichnet sich ab. Ich sage: „Erzähl mir von meinem Bruder.“
„Dein Bruder? Ich war 23, er war die leichteste Geburt von Euch fünf Kindern, obwohl er der Erste war. Dein Vater musste die Rettung suchen, die waren irgendwo, wir haben kein Telefon gehabt, das war nicht so einfach. Er musste mit dem Motorrad fahren sie zu suchen.
Dann kam ich ins Krankenhaus in Kirchdorf, und die Geburt war recht einfach. Die Ärzte und Krankenschwestern haben sein Muttermal an der Wange bestaunt, das war sehr groß, als er ein Baby war, die eine Schwester hat gesagt: Ein besonderes Kind! Meine Mami ist dann nächsten Tag mit Eurem Vater gekommen, sie hat etwas zum Anziehen für mich dabei gehabt und Eurem Vater hat sie glaub ich einen Strauß Vergissmeinnicht gegeben, es war ja im Mai. Dann kam ich am nächsten Tag nach Hause, wir haben bei der Tante Frieda in einem kleinen Zimmer gewohnt, wir hatten nichts, nicht einmal einen Kinderwagen.“
„Euer Vater hat im Lagerhaus gearbeitet, er hat eine ältere Frau gekannt über das Lagerhaus, eine Bäuerein vielleicht, die hat schon ein paar Kinder gehabt, und sie hat einen sehr alten Kinderwagen gehabt. Sie hat ihn Eurem Vater geschenkt, und er hat ihn dem Habacher auf den Mistwagen gestellt und ihm gesagt, er soll ihn bei uns abstellen. Der Kinderwagen war so hässlich und alt, ich habe mich so geschämt. Aber wir haben halt nichts gehabt, also habe ich ihn nehmen müssen. Und aus Deinem Bruder ist dann ja doch etwas geworden… Ob ich bei Dir schon einen schöneren Kinderwagen gehabt habe? Ich glaube nicht… „