Christl

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Christl ist 82, es geht ihr „eh ganz gut“. Ein bisserl schwindelig fühlt sie sich, als sie mit der Gießkanne zum Grab meines Vaters kommt, der ihr Halbbruder war. Sie ist also meine Halbtante oder so, aber ich nenne sie vollwertig „Tante Christl“. Wenn es Zeit und Gesundheit zulassen, schaut sie hier am Friedhof vorbei, gleich neben dem Gab meines Vater liegt das ihres verstorbenen Mannes, er war der „Onkel Rudl“ und starb vor zehn Jahren.

Christl gießt die Gräber zunächst immer nur „ein bisserl“, später wird sie nochmal mit einer vollen Kanne ihre Runde drehen, vorbei an drei Gräbern, und nachgießen. „Sonst läuft das Wasser einfach ab, und es geht nicht in die Erde.“

Ihr leiblicher Vater liegt auch da drinnen, er starb 1938, er war Sensenwerksarbeiter. Seine Tochter Christl war ein Jahr alt, ihr Bruder Alois zwei Jahre alt, ihre Mutter, die später meine „Großmami“ werden sollte und heute auch da drinnen liegt, mit zwei Kindern und einer winzigen Landwirtschaft alleine. Es begann der Krieg.

Christl erzählt: Am Begräbnis ihres leiblichen Vaters schaute sich der Franz, ein Halodri, um, der später mein Großvater werden sollte. Er war beim örtlichen Fleischehauer als Rossknecht angestellt und suchte „ein Zeugerl“, also eine kleine Landwirtschaft. Er machte sich an die Witwe heran, obwohl er eine Freundin hatte, und heiratete sie, zog bei ihr ein und zeugte mit ihr noch meinen Vater  Franz und dessen Bruder Ernst. „Später hab ich ihn einmal gefragt, ob er meine Mutter auch geheiratet hätte, wenn sie nicht drei Kühe gehabt hätte“. Er sagte: „Nein.“ Ich zünde eine  Kerze für ihn an, denn ohne ihn wäre ich nicht hier.

Heute ist Christl die einzige aus ihrer Familie, die noch lebt. Mein Vater starb vor fünf Jahren, ihr gemeinsamer Bruder Ernst ein Jahr darauf. Ihr leiblicher Bruder Alois starb bereits 1971, er ertrank am 12. Juli am Gleinkersee, es war ein heißer Sommertag, er kam von der Kirschenernte. Tante Christl war damals herunten im Ort, und als sie arglos in ein Geschäft einkaufen ging, fragte sie der Besitzer: „Weißt du es noch nicht?“ Den Leichenwagen freilich hatte sie zuvor schon aus dem Ort hinausfahren gesehen.

Ihr Brüder gehen ihr ab, noch immer. Sie trugen oft unterschiedliche Schuhe für den beschwerlichen Schulweg, erinnert sie sich, und auch an das einfache Spielen am abgelegenen Hof: „Wir hatten Zapfen, und Haare vom Ross, die haben wir geflochten“. Zu Weihnachten gab es Socken oder Fäustlinge. Nur einmal, erzählte mir mein Vater irgendwann, bekam er einen Kamm.

Da hatte er Tränen in den Augen, und ich auch.

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